Einleitung

Challenging Populist Truth-Making in Europe: The Role of Museums in a Digital 'Post-Truth' European Society (CHAPTER), Projektlaufzeit 2020-2026, wird von der VolkswagenStiftung finanziert. Durch ethnografische Forschung und digitale Innovation entwickelt das Projekt Zugänge und Best-Practice-Beispiele zur Unterstützung von Museen im Umgang mit dem wachsenden Einfluss von populistischer Wahrheitsbildung in Europa. Das Projekt ist angesiedelt am Centre for Anthropological Research on Museums and Heritage (CARMAH) an der Humboldt-Universität zu Berlin, dem Ludwig-Uhland-Institut für Empirische Kulturwissenschaft an der Universität Tübingen, der Jagiellonian University (JU) in Krakow und dem University College London (UCL). Es kooperiert mit Museen und einem wissenschaftlichen Beirat aus verschiedenen europäischen Ländern, einschließlich einer Kooperation mit der Softwareentwicklungsfirma Fluxguide aus Wien. Ein zentrales Ziel des Projekts ist das gemeinsam mit jungen Besucher*innen durchgeführte Co-Design einer Museums-App, die zu einer kritischen Reflexion des Einflusses rechtspopulistischer Wahrheitsbildung inspirieren soll. Das Projekt vereint dabei eine breite Auswahl an kulturanthropologischen Arbeitsfeldern, einschließlich der Digitalen Anthropologie, Museumsanthropologie, der Politischen Anthropologie sowie der Anthropologie von Emotionen und Affekten, um auf europäischer Ebene danach zu fragen, wie Museen populistischer Wahrheitsbildung in digitalen Gesellschaften entgegentreten können.

Ziel des Projekts

Eine der größten Herausforderungen für den öffentlichen demokratischen Diskurs in gegenwärtigen europäischen Gesellschaften ist die Zunahme sogenannter “post-faktischer” Wahrheiten, die – insbesondere im Internet – etablierte Normen faktenbasierter Meinungsbildung in Frage stellen. Museen sind zunehmend mit starken Behauptungen über Kultur, Geschichte, Gesellschaft, Politik oder Umweltentwicklungen konfrontiert, die als wahr betrachtet werden, weil sie gefühlten Wahrheiten entsprechen oder diese erschaffen. Ausgehend von anthropologischen Perspektiven auf Emotionen und Affekte betont CHAPTER die Rolle von Emotionen in der populistischen Wahrheitsbildung und erforscht, wie dadurch Meinungen über Gesellschaft, Politik und Kultur geprägt werden. Die Praktiken emotionaler populistischer Wahrheitsbildung werfen für Museen ein Dilemma auf: Wie können Museen populistischer Wahrheitsbildung entgegentreten, ohne dabei explizit oder implizit populistische Praktiken zu reproduzieren? Ist es möglich, emotionale Wahrheitsbildung in Frage zu stellen, ohne eine verkürzte Dichotomie zwischen “rationaler Wahrheit” und “emotionaler post-faktischer Wahrheit” in den Mittelpunkt zu rücken? Was können Museen tun, um die Komplexität von Fragen nach Wahrheitsbildung hervorzuheben, ohne dabei populistische Annahmen und Anschuldigungen zu bestärken? Kurz: Wie können Museen sinnvoll und effektiv auf populistische Wahrheitsbildung reagieren, diese reflektieren und ihr kritisch begegnen? Diese Fragen bilden die Kernherausforderung von CHAPTER. Um sich diesen Herausforderungen zu stellen, wendet das Projekt ein innovatives, vielschichtiges Forschungsdesign an. Die ethnografische Forschung über populistische Wahrheitsbildung sowie zur Perspektive der Besucher*innen ermöglicht in Kombination mit der Kompetenz der Projektpartner*innen für digitale Innovation in Museen ein anwendungsbezogenes Co-Design einer digitalen Museumsapp. Die App wird in Kooperation mit drei Partnermuseen und der Softwarefirma Fluxguide entwickelt. Junge Museumsbesucher*innen sollen herausgefordert werden, sich kritisch mit Praktiken populistischer Wahrheitsbildung auseinanderzusetzen. Das Ziel ist nicht nur, die App gemeinsam mit jungen Besucher*innen zu entwickeln, sondern den App-Gebrauch darüber hinaus auch zu begleiten, zu analysieren und zu evaluieren, um dadurch weiterführende Kenntnisse über die Rolle populistischer Wahrheitsbildung im Alltag junger Europäer*innen sowie das Bildungspotential digitaler Medien in musealen Kontexten zu erhalten. Dafür wird das Projektteam ein Best-Practice-Portfolio erstellen, das praktische und interdisziplinäre Lösungsansätze bereitstellt, die es Museen und kulturellen Institutionen erlauben, individuelle Strategien im Umgang mit dem wachsenden Einfluss populistischer Wahrheitsbildung in Europa zu entwickeln.

Arbeitsbereiche

1: Den Einfluss populistischer Wahrheitsbildung auf Museen verstehen

Arbeitsbereich 1 zielt darauf ab, den Einfluss populistischer Wahrheitsbildung auf europäische Museen zu verstehen und einen umfassenden Vergleich auf europäischer Ebene zu ermöglichen. Eine empirische, explorative Studie, die von der Postdoktorandin Julia Leser koordiniert und gemeinsam mit den Doktorandinnen Alice Millar, Marlena Nikody und Pia Schramm umgesetzt wird, erfasst die Erfahrungen von Museumsakteur*innen in Deutschland, Polen und Großbritannien. Dabei werden folgende Fragen adressiert: Welche Auswirkungen hat populistische Wahrheitsbildung auf europäische Museen? Welche Strategien haben Museen bisher entwickelt, um post-faktische Wahrheitsbildung durch ihre kuratorische und pädagogische Arbeit sowie ihr öffentliches Engagement herauszufordern? Welche Strategien und Politiken werden von populistischen politischen Akteur*innen in Museen unterstützt und/oder durchgesetzt? Wie werden Fragen nach der eigenen Wahrheitsbildung in Museen gestellt? Angesichts der besonderen Bedeutung digitaler Medien für „post-faktische“ Gesellschaften (z.B. Online-Plattformen, die als Räume für die Verbreitung von "Fake News" und anderen "alternativen Fakten" fungieren), führt das Team auch eine Internet-Ethnografie zu diesen Fragen durch.

2: Besucher*innenerfahrungen in affektiven Kontaktzonen von Museen untersuchen

Arbeitsbereich 2 geht davon aus, dass Museen nicht nur Orte des Austauschs “rationalen” Wissens, sondern auch Orte der emotionalen Vermittlung von Wahrheiten sind. Indem wir James Cliffords Konzept der contact zones (Kontaktzonen) adaptieren, können wir erfassen, wie Museen “affektive Kontaktzonen” bilden und ihre Dynamik in Hinblick auf Museumsbesucher*innen im jungen Erwachsenenalter verstehen. Die wissenschaftlichen Projektmitarbeiterinnen arbeiten mit Partnermuseen (der Ausstellung Berlin Global des Berliner Stadtmuseums in Deutschland, dem Museum of London in Großbritannien und der Oskar Schindlers Emaille Fabrik in Polen) sowie mit Schulen/Universitäten/Hochschulen in Berlin, London und Krakow zusammen, um den Umgang der jungen Besucher*innen mit den affektiven Kontaktzonen von Museen ethnografisch zu erforschen. Die Schlüsselfragen lauten: Wie erleben junge Besucher*innen emotionale Wahrheitsbildung in Museen und wie gehen sie damit um? Wie funktionieren Museen als affektive Kontaktzonen in Bezug auf bestimmte Wahrheiten? Was können wir aus dieser Studie lernen, um den Einfluss von populistischer Wahrheitsbildung auf Museen besser einzuordnen und zu verstehen?

3: Affordanzen und Potenziale digitaler Medien in musealen Räumen erkunden

Ziel von Arbeitsbereich 3 ist es, die Möglichkeiten digitaler Medien bei der Förderung einer kritischen Auseinandersetzung mit populistischer Wahrheitsfindung zu bewerten: Welche Rolle spielen digitale Medien in Prozessen der Wahrheitsbildung, spezifisch für junge Erwachsene? Wie können digitale Werkzeuge wie Museumsapps junge Museumsbesucher*innen dazu inspirieren, sich während ihres Besuchs kritisch mit Fragen emotionaler Wahrheitsbildung auseinanderzusetzen? Wie können Social Media verwendet werden, um Reflexionen über den musealen Ort hinaus zu teilen? Um diese Fragen zu beantworten, werden ethnografisch sowohl die Affordanzen als auch die praktischen Nutzungsweisen existierender Museumsapps, digitaler Geräte und Plattformen untersucht. Gemeinsam mit Arbeitsbereich 1 und 2 arbeitet dieser Projektteil darauf hin, Ideen für das Co-Design der CHAPTER Museumsapp zu entwickeln.

4: Populistische Wahrheitsbildung durch digitale Innovation herausfordern

In Arbeitsbereich 4 führen wir unsere ethnografischen Ergebnisse der vorherigen Projektteile zusammen, um in Kooperation mit unserem Projektpartner Fluxguide eine Museumsapp zu entwickeln. Zweck der App ist es, die Fähigkeit zur kritischen Reflexion populistischer Wahrheitsbildung zu fördern. Dazu werden die affektiven Kontaktzonen unserer Partnermuseen durch ein digitales, spielerisches und kritisch-reflexives Medium erweitert. Die App wird ein gemeinsames Design für alle drei Museen haben, aber der Inhalt auf das jeweilige Partnermuseum zugeschnitten sein. Sie wird in den App Stores für iOS- und Android-Geräte zum kostenlosen Download zur Verfügung stehen. Der Prozess der App-Entwicklung und Implementierung wird kontinuierlich reflektiert und ethnografische Zugänge ermöglichen uns, die Nutzung der App durch junge Besucher*innen besser zu verstehen. Über ein von Fluxguide bereitgestelltes, mobiles Content Management System können die Nutzer*innen der App mit unseren Forscher*innen zusammenarbeiten, Feedback geben und die Inhalte und Aufgaben der App nach ihren individuellen Vorstellungen anpassen. Durch die ethnografische Reflexion dieses kollaborativen Prozesses wird das Forschungsteam entscheidende Einblicke in die Beziehung zwischen emotionaler Wahrheitsfindung, digitalen Medien und Museumsräumen gewinnen. In einem Best-Practice-Portfolio werden abschließend bewährte Strategien zusammengetragen, die Museen dabei helfen können, der Herausforderung populistischer Wahrheitsfindung durch digitale Innovation zu begegnen.